Die natürliche Haltungsform
Bei Beobachtungen von noch ursprünglich lebenden Naturvölkern, weit ab von der modernen Zivilisation, sind Verhaltens- und Bewegungsmuster zu erkennen, die uns heute vollkommen fremd sind. An diesen Völkern können wir aber ablesen, wie unsere Vorfahren als Jäger und Sammler gelebt haben. Das wir noch heute diese Gene in uns tragen, hilft uns zu verstehen, welche Fähigkeiten und Bedürfnisse unser Körper einst hatte und wie durch ein Fehlen dieser Faktoren Krankheiten und körperliche Dysfunktionen entstehen.
Wir alle kennen vermutlich Bilder von Menschen aus dem asiatischen Raum oder von Naturvölkern die in hockender Weise werkeln oder ihre Mahlzeiten bereiten. Wir alle kennen außerdem das Bild von kleinen Kindern, die instinktiv in die Hocke gehen um etwas aufzuheben oder auch in der Hocke auf dem Boden spielen.
Wir empfinden diese Haltung vielleicht sogar als primitiv und kindlich und genau das ist sie auch: einfach und natürlich. Ausruhen, Werkeln, Aufheben – für diese Funktionen ging der Mensch einst in die tiefe Hocke.
Stühle, Tische und alle verwandten Formen sind für uns die kultivierte Form des Verweilen. Ob bequem auf dem Sofa oder funktional am Schreibtisch, der moderne Mensch verbringt im Durchschnitt 95% seiner wachen Zeit im Sitzen.
Sitzen ist für uns das Normale geworden. Und so werden schon die kleinsten Kinder schnell zum Sitzen auf Stühlen erzogen. Sie müssen sich unseren kulturellen Normen anpassen und werden schon als Baby auf Hochstühlen mit an den Tisch gesetzt.
Kleine Kinder durchleben instinktiv die natürlichen Bewegungsstadien: Vom ersten Rumrollen über das Krabbeln zu den ersten Gehversuchen. Sind diese Fähigkeiten erlernt und das Gleichgewicht geschult, setzen sie sich eigentlich irgendwann zum Spielen in die tiefe Hocke oder verwandte Haltungen. Es sei denn, wir erziehen sie an Stühle und leben eine andere Sitzhaltung vor, die von den Kleinen adaptiert wird. Bei westlichen 4-jährigen sieht man diese Haltung nur noch sehr selten. Die menschliche Anatomie ist nur bedingt für diese Art der Haltung geschaffen. Kritisch wird es vor Allem, wer wir uns stundenlang in diese Position zwingen.
Was passiert mit unserem Körper
Langes Sitzen schwächt unser Bewegungszentrum auf eindrucksvolle Weise. Die Folgen für unseren Bewegungsapparat sind so zahlreich, dass es schwierig ist, sie alle zusammen zu bekommen.
Hier sind die Wichtigsten:
Wirbelsäule und Verspannungen
Unsere Hüftbeuger, Insbesondere der Illio Psoas und Illiacus aber auch die vordere Oberschenkelmuskulatur (quadrizeps), befinden sich in der rechtwinkligen Sitzposition in einem relativ kurzen Zustand. Sitzen wir lange, passt sich die Muskulatur darauf an. Im Volksmund nennt man dies Muskelverkürzung, es handelt sich sehr wahrscheinlich aber eher um eine Spannung, die aufgebaut wird.
Die Muskeln ziehen nun am Becken, das mit erhöhter Spannung immer weiter nach vorne kippt. Dies kann zu einer Hyperlordose in der unteren Wirbelsäule führen. Hohlkreuz, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Beckenschiefstand und andere Probleme in der Wirbelsäule, im Nacken und der Hüfte können sich manifestieren.
Viele junge Menschen bekommen durch das viele Sitzen in der Schule Haltungsschäden während ihrer Wachstumsphase. Die Zeit in der Kinder sich bewegen und nicht sitzen wird zunehmend weniger.
Im Sitzen wird praktisch der gesamte Stütz-Mechanismus des Beckens und der Wirbelsäule außer Kraft gesetzt. Die Gravitation zwingt unsere Oberkörper in eine kollabierte Position. Jeder der schon einmal versucht hat über längere Zeit grade zu sitzen, wird wissen, wie schwer es ist diese Position über mehr als ein paar Minuten zu halten. Eltern schimpfen dann gerne mit ihren Jugendlichen: „Sitz gerade Junge“. Die Armen haben es aber ungemein schwer – ausgerechnet auch noch im Wachstum diese Körperdisziplin aufbringen zu müssen. Haben sie dann noch einen Tisch zum essen oder schreiben vor sich, ist der runde Rücken kaum zu vermeiden. Diese ungünstige Haltung fördert die Bildung einer Hyper-Kyphose, umgangssprachlich auch Rundrücken genannt.
Wer lange Zeit die gleiche oder ähnliche Position hält, der darf sich oft auch über Muskelverspannungen freuen. Die weiterverbreitesten Museklverspannungen finden sich in Nacken- und Schulterpartie.
Hüftarthrose
Unsere Gelenkknorpel sind selbst nicht durchblutet und funktionieren im Prinzip wie ein Schwamm, der von der Gelenkflüssigkeit mit Nährstoffen mittels Diffusion versorgt wird. Durch Bewegungsreize, die aus dem Wechsel zwischen Be- und Entlastung folgen, werden sowohl Nährstoffe zum Knorpelgewebe hin, als auch Abfallprodukte von ihm weg transportiert. Wird der Knorpel zu wenig oder zu langanhaltend belastet kann dieser Austausch nicht stattfinden und das Gewebe geht unter. Wie ein Schwamm der in einer Schale mit Wasser liegt und zusammen gedrückt wird. Genau das findet in unseren Hüftgelenken statt, wenn beim sitzen der Oberschenkelkopf dauerhaft auf die Gelenkpfanne drückt.
Weitere Folgen
Über viele Millionen Jahre wurde unser Körper darauf angepasst als Jäger und Sammler weite Strecken zu gehen und zu laufen.
Man nimmt an, dass die damals zurück gelegten Distanzen ca. 20-30km am Tag betrugen. Das ist unser natürliches aerobes Belastungspensum. Bekommen wir dies nicht, kann der Körper in Schwierigkeiten geraten. Sitzend wird unser Metabolismus genauso heruntergefahren als würden wir liegen. Stehend hingegen aktiviert die Muskulatur und wir verbrennen Energie.
Studien zufolge erhöht es die Risiken für Bluthochdruck, Diabetes, Arteriosklerose, Übergewicht, Thrombosen und manche Krebsarten. Sogar Teile des Hirns können durch langes im Sitzen degenerieren.
Und sogar für sportlich Aktive, die außer ihrer Joggingrunde den ganzen Tag sitzen, ist es ein Risikofaktor. Auch die meisten Ertüchtigungen im Fitnessstudio können den Folgen nicht entgegenwirken, denn entweder geht es nach dem Büro direkt wieder in sitzender Position auf’s Rad oder man setzt sich an die Trainingsgeräte im Studio.
Wer den ganzen Tag im Auto oder am Schreibtisch sitzt, verändert seine Physiologie und riskiert damit noch viel mehr als Haltungsschäden.
Fazit
Die Frage ist, was ist der Dauerzustand, bzw. der Normalzustand. Ab und zu mal für eine halbe Stunde zu sitzen ist kein Problem.
Wenn wir allerdings nur mal kurz stehen und gehen um das Sitzen zu unterbrechen ist dies das Gegenteil von unserer natürlichen Veranlagung.
Wir sitzen überall und wo es nur geht. In unserer Infrastruktur sind ja auch überall Sitzgelegenheit geschaffen. Es wird als zuvorkommend, hilfsbereit und gastfreundlich empfunden jemandem einen Platz anzubieten.
Die Erfindung von Stühlen schadet uns mehr denn je, denn wir sitzen in unserer leistungsorientierten Wissensgesellschaft immer mehr, immer länger und ontogenetisch betrachtet immer früher. Selbst in Situationen die durchaus im Stehen verbracht werden könnten, wie beispielsweise beim Warten an der Bushaltestelle, nutzen wir nur zu gerne die Möglichkeit uns kurz auszuruhen. Dabei ist Stehen, neben dem Hocken, die beste Alternative zum Sitzen. Unsere Muskeln sind aktiv und unsere Bänder werden beansprucht. Wir sollten also Stehen und wo es geht unseren Stuhl verlassen.